Erster Bibliolog-Kurs in Indien

Erster Bibliolog-Kurs in Indien

von Uta Pohl-Patalong

Im Februar 2024 fand der erste Bibliolog-Kurs in Indien statt, geleitet von meiner Schwester Maike Lauther-Pohl und mir. Zielgruppe waren Pfarrpersonen und angehende Pfarrpersonen der ev.-luth. Jeypore-Kirche, die im Bundesstaat Odisha im Osten Indiens liegt und aus Dalits (Kastenlosen) und Adivasi (Ureinwohner*innen, im Kastensystem ebenfalls ganz unten) besteht. Sie ist eine Partner-kirche der Nordkirche und meine Schwester und ich haben eine besondere Beziehung zu ihr, weil unser Urgroßvater sie vor ca. 140 Jahren mitbegründet hat. Der persönliche Kontakt kam zustande, als meine Schwester und ich 2020 mit einer Frauendelegation der Nordkirche zum Thema Gender-gerechtigkeit dort waren und ich in der Frauengruppe einen Bibliolog durchgeführt habe, der auf großes Interesse stieß. Seitdem gab es mehrere digitale Bibliologe und recht komplizierte Planungen für einen Kurs in der Jeypore-Kirche. Organisiert und finanziert (d.h. Flüge und Aufenthaltskosten für uns und die Teilnehmer*innen) wurde er vom Ökumene-Werk der Nordkirche.

Durchgeführt haben wir den Kurs in Puri, ca. 500 km von der Jeypore-Kirche entfernt. Dies hatte zum einen den Grund, dass die Pfarrer und vor allem die (wenigen) Pfarrerinnen kaum eine Woche unbehelligt von Gemeinde auf einer Fortbildung verbringen können, wenn sie in erreichbarer Nähe sind. Es sollte aber auch uns schützen, den Kurs an einem touristischen Ort durchzuführen (Puri liegt am Meer und ist ein Pilgerort mit einem berühmten Tempel in der Nähe), damit unsere Tätigkeit unter dem staatlichen Radar bleiben konnte. Denn in der hinduistisch geprägten Regierung mit den Zügen einer Diktatur sind christlich geprägte Tätigkeiten von Ausländer*innen verboten. Daher haben wir in einem internationalen Hotel übernachtet, während die Teilnehmer*innen in einem katholischen Ashram gewohnt haben, in dem auch der Kurs stattfand (der Ashram wurde von Steyler Missionaren gegründet, die bis heute eine beeindruckende Lepra-Arbeit in einer interreligiösen Perspektive haben. Der meditierende überlebensgroße Jesus im Hof ist wirklich eindrucksvoll.)

Teilgenommen haben 9 Pfarrerinnen und 6 Pfarrer (bzw. solche in Ausbildung), die von der Leiterin der Frauenarbeit direkt angesprochen wurden – nach den Kriterien, ob sie offen scheinen für einen interaktiven Ansatz und ob sie hinreichend Englisch verstehen. Einige kannten den Bibliolog von der Frauendelegation oder Zoom-Bibliologen, die meisten jedoch nicht. Sie waren durchweg sehr interessiert und engagiert. Waren wir vorher gewarnt worden, dass die Beteiligung möglicherweise niedrig sein würde, weil interaktive Arbeitsformen in den indischen Kirchen nicht üblich seien, wurden wir rasch eines Besseren belehrt: Nach den ersten beiden Rollen hatten sich alle Anwesenden bereits mit Beiträgen beteiligt. Gleichzeitig machten einige Teilnehmer*innen deutlich, dass der mit dem Bibliolog verbundene Paradigmenwechsel zu einem partizipativen Ansatz, der die Auslegungshoheit an die Gemeinde delegiert, für indische Christ*innen in der Tat sehr ungewohnt ist. Kirchliche Arbeit erfolgt ansonsten überwiegend frontal, die Pfarrpersonen besitzen eine hohe Autorität, die Kirche ist ebenso hierarchisch orientiert wie die Gesellschaft und die Theologie würden wir als „sehr konservativ“ bezeichnen. Wir haben sie ermutigt, den Bibliolog erst einmal kennenzulernen und dann zu prüfen, ob und wenn ja, in welchen Kontexten sie den Bibliolog einsetzen möchten (und nicht mit dem Gottesdienst zu beginnen, zumal dieser in der Regel von Hunderten von Menschen besucht wird). Die Rückmeldungen von denjenigen, die den Bibliolog inzwischen in den Gemeinden praktiziert haben, waren jetzt allerdings sehr positiv.

Eigentlich hatten wir für den Kurs einen Tag länger eingeplant als in Europa, was sich aber aufgrund von organisatorischen Fragen als nicht möglich herausstellte. Den Kurs in dem üblichen Zeitraum durchzuführen, war dann tatsächlich eine Herausforderung, weil für manche die englische Sprache doch eine große Hürde war und das mit dem europäische konzipierten Kursaufbau verbundenen Denken auch eher ungewohnt.

Wir haben daher die Konzeption der eigenen Bibliologe intensiver als sonst unterstützt. Letztlich waren dann auch alle Bibliolog bis auf einen, bei dem das sprachliche Verständnis ein großes Problem darstellte), gelungen und manche zeigten dabei ein hohes intuitives Verständnis in der Haltung und den Techniken. Unter diesen haben wir vier (weibliche) Personen angesprochen, ob sie sich vorstellen könnten, Trainer*innen zu werden, die alle zugesagt haben.

Im Bibliolog in Indien habe ich die gleiche Erfahrung gemacht wie in Südafrika oder in Brasilien: Er funktioniert in ganz unterschiedlichen Kontexten. Ich erkläre mir das so, dass im Bibliolog der Kontext ja bereits in den Text hineingetragen wird und daher der Ansatz als solcher weniger an einen Kontext angepasst werden muss. Der Kontext im Text bewirkt aber gleichzeitig, dass Fragen anders beantwortet werden. Das gilt beispielsweise für eine viel stärkere Berücksichtigung der spirituellen Ebene, als ich es in Deutschland erlebe, da sie im indischen Alltag wesentlich präsenter ist. Damit sind manche Fragen, auf die mir im deutschen Kontext nicht mindestens drei unterschiedliche Antworten einfallen würden, im indischen Kontext absolut ergiebig. Zugleich gibt es in manchen unterschiedliche „Fallen“: So war es beispielsweise für die indischen Bibliolog*innen eine Heraus-forderung, in der Hinführung nicht bereits die gesamte Geschichte inklusive Deutung vorwegzu-nehmen, weil ein solcher Überblick in der Predigt üblich ist und gefordert wird.

Insgesamt war es eine sehr intensive und erfüllende Woche. Das Bewusstsein, dass wir uns dabei in den Spuren unserer Urgroßeltern bewegen und gleichzeitig eine andere theologische und didaktische Ausrichtung vertreten, als sie damals üblich war, hat sie für uns zusätzlich noch besonderer gemacht.