Von den Anfängen des Bibliologs in Indien

„Bibliolog in Indien… du kannst nicht damit rechnen, dass da groß etwas kommt. Die Menschen dort sind so an frontale Situationen gewöhnt, dass sie kaum selbst etwas zur Bibel sagen werden.“ So oder ähnlich war ich wohlmeinend öfter gewarnt worden, wenn es um Überlegungen zum Bibliolog in Indien ging. Diese lagen mir aufgrund meiner Familiengeschichte lange am Herzen, unsere Urgroßeltern waren in Indien in der Mission tätig. Anfang des Jahres, kurz vor dem Corona-Lockdown, hatte ich die Chance, endlich einmal Bibliolog in Indien auszuprobieren. Gemeinsam mit meiner Schwester Maike Lauther-Pohl war ich mit einer Frauendelegation der Nordkirche in der Jeypore-Kirche, die sich im Rahmen des Projekts „Women on the move“ mit indischen haupt- und ehrenamtlich engagierten Frauen der Jeypore- und auch der Assam-Kirche traf. Zunächst hatte ich überlegt, bei einem der beiden großen „stree melas“, einem Treffen einiger hundert Frauen aus vielen Dörfern, einen Bibliolog zu machen; dies schien mir dann aber für einen ersten Versuch zu komplex und unübersichtlich. Daher fand der Bibliolog im Rahmen des Seminars mit den ca. 25 delegierten indischen und deutschen Frauen statt. Eine indische Pastorin übersetzte Prolog, Hinführung und die Fragen aus dem Englischen in Odiya und die Teilnehmerinnen konnten entweder Englisch oder Odiya sprechen, was dann jeweils übersetzt wurde, bevor ich es auf Englisch im Echoing wiedergab. Als Text hatte ich die Erzählung von Maria und Martha (Lukas 10,38-42) gewählt, weil mir darin gute Identifikationsmöglichkeiten für die indischen Frauen zu liegen schienen.

Die Hinführung führte in die Situation des Dorfes hinein, in dem seit einer Weile schon immer wieder von einem Jesus die Rede ist, der mit einer Gruppe von Frauen und Männern durch das Land zieht, vom Reich Gottes spricht, Ideen verbreitet, wie das Leben sein sollte, und auch heilt und böse Geister austreibt. Nach V.38 „As Jesus and his disciples were on their way, he came to a village where a woman named Martha opened her home to him“ formulierte ich die erste Rolle und Frage: „You are Martha. Martha, what makes you invite Jesus?“ Ich hatte kaum ausgesprochen (geschweige denn, dass übersetzt worden wäre), da meldete sich bereits die erste Teilnehmerin, mit 65 die älteste der Runde, und begann unmittelbar auf Odiya zu sprechen, was dann übersetzt wurde mit: „Hospitality is very important to me. Of course I open my home for Jesus!“ Dies gab ich im echoing wieder und sofort schloss sich die nächste Äußerung an, dann die nächste und wieder die nächste… Eine Scheu, in den biblischen Rollen zu sprechen, war überhaupt nicht zu bemerken, im Gegenteil: Dass sich im Laufe eines Bibliologs mit vier Rollen alle 25 Teilnehmenden beteiligen, habe ich in Europa kaum jemals erlebt. Besonders dicht wurde es noch einmal in der letzten Rolle, als nach Maria und noch einmal Martha eine Freundin der beiden befragt wurde: „You are Susanna, a very good friend to both of the sister. Susanna, you have heard everything that was spoken in the house through an open window. (I’m sure you didn’t mean to eavesdrop, but you have good ears…J) What do you feel in this moment, what is in your heart about the two sisters?“ Manche der Frauen nahmen eher Partei für Maria, andere für Martha, viele aber konnten beide sehr gut verstehen. Kritik an Jesus, wie ich es aus dem deutschen Kontext bei dieser Geschichte oft kenne, wurde nur sehr ansatzweise geäußert, und ich hätte mir auch nicht vorstellen können, Jesus zu befragen. Ansonsten kamen manche Äußerungen, die mir vertraut waren, während bei anderen die deutlich patriarchaleren indischen Lebensverhältnisse spürbar wurden. Vor allem aber wurde durchgehend der sehr viel selbstverständlichere internalisierte Anspruch, das Leben nach christlichen Maßstäben gut zu führen, deutlich, bei dem Versagen und Schuld rasch möglich sind.

Das anschließende Sharing zeigte, dass viele Frauen tief in die Geschichte eingestiegen waren und die ihnen sehr gut bekannte Handlung ganz anders wahrgenommen hatten als sonst. Mehrere zeigten sich bewegt und berührt, so nah an den biblischen Gestalten gewesen zu sein. Und mehrere wünschten sich mehr davon – und wollten es sofort selbst lernen.

Anamika J. Bag Sona, Theologin in der Assam-Kirche, formuliert es so: „It was a great opportunity for me to involve, to expose and to explain the word of God in a new way. For me Bibliolog is an essential und acceptable way to attract people which I strongly believe listeners could keep the teaching of the word of God for long time or it could be set permanent in listeners mind. Further, it is also an excellent way to get deep in mind of young generations and children, who are the future leaders of our church and society.“

Zumindest zum „mehr davon“ ergaben sich ausgerechnet durch Corona rascher als gedacht neue Möglichkeiten. Im Juni bekam ich von Kuntala Naik, einer der Pastorinnen, die die Frauenarbeit in der Jeypore-Kirche organisiert, eine WhatsApp mit der Frage, ob ich mir einen Bibliolog über Zoom vorstellen könnte. Das sagte ich natürlich gerne zu. Nach einigen organisatorischen Schwierigkeiten fand dieser dann Ende Juli statt, mit acht „lady pastors“, wie die (immer noch wenigen) Pastorinnen der Jeypore- und der Assam-Kirche genannt werden. Ihre ohnehin sehr anstrengende Lebenssituation zwischen 200%igem Einsatz für die Gemeinden, mit dem sie ihre Tauglichkeit für diesen Beruf unter Beweis stellen und der vollen Haus- und Familienarbeit wird gegenwärtig durch die dort sehr angespannte Corona-Situation noch verschärft, so dass ich gebeten wurde, das „spiritual nourishment“ besonders im Blick zu haben. Da lag natürlich Psalm 23 nahe. Gleich bei der ersten Frage Soul, how does it feel to be so refreshed? What is it like to be grazed in a green meadow and be led to fresh water?“ wurde deutlich, wie wichtig es für die Frauen ist, die permanent geben, etwas zu bekommen. Während ich ansonsten gerne die Situation des bereiteten Tisches aus V.5 in der Perspektive des „Feindes“ erleben lasse, habe ich hier deshalb auch die Rolle der am Tisch sitzenden Person gewählt. Nachdem die Beteiligung aber auch in diesem Bibliolog rege und lebendig war, habe ich dann anschließend noch einmal in die Perspektive des darauf blickenden „Feindes“ eingeladen – und auch dies war gut möglich. Bei dem Bibliolog über Zoom habe ich auf das echoing verzichtet, weil das mit der Übersetzung zwischen Englisch und Odiya dann vermutlich endgültig aus der Trance geholt hätte. Technisch ergaben sich bei diesem Bibliolog außer dem Totalausfall fast alle denkbaren Probleme: schlechte Verbindungen, Rauschen, prasselnder Regen auf Blechdächern, ins Bild laufende Kinder und Männer, einzelne flogen bei Zoom raus und kamen wieder rein, jeweils nach 40 min mussten sich alle wieder neu einwählen. Noch vor einigen Monaten wäre ich sicher gewesen, dass unter diesen Umständen eine Trance nicht möglich ist. Erstaunlicherweise tat all dies der Dichte und Intensität der Begegnung mit dem Psalm keinen Abbruch. Wenn Bibliolog unter diesen Umständen nicht nur möglich, sondern auch so dicht sein kann, kann ich mir schwer Umstände vorstellen, unter denen er nicht geht.

Wir haben verabredet, alle sechs bis acht Wochen einen Bibliolog über Zoom zu machen, zumindest bis es dort den ersten Kurs gibt. Einen solchen haben meine Schwester, die ebenfalls Bibliolog-Trainerin ist, und ich mit Unterstützung der Nordkirche für Anfang 2022 ins Auge gefasst – in der großen Hoffnung, dass die Corona-Lage dies dann zulässt. Das Interesse ist ausgesprochen groß, den Gemeinden auf diese Weise die Bibel unmittelbar und lebendig so zugänglich zu machen, dass sie sie selbst auslegen und nicht nur der Auslegung der Ordinierten zuhören.

Kuntala Naik drückt es so aus: „I feel Bibliolog is a very good model because normally in bible study we just listen to the resource person and answer a few questions if the resource person or facilitator asks. Bibliolog gives me the space to be creative and it takes me into the text. It connects me personally with the text, allows me to be the character and helps me to understand the text and context. It also helps me to reflect on the text in my own personal life.“

Für uns ist dies eine sehr besondere Konstellation. Ende des 19. Jh. hat unser Urgroßvater zusammen mit seinem Kollegen unter den kastenlosen „Dalits“ in dieser Region als erster von einem Gott gesprochen, der Menschen nicht nach ihrem (Kasten- und Geschlechter-)Status bewertet, sondern jedem Menschen unverlierbare Würde zuspricht. Wie wichtig dies für das Lebensgefühl von Christ*innen in Indien bis heute ist und wie sehr sie die Mission damals deshalb schätzen, weil sie Freiheit und Selbstbewusstsein auf sie zurückführen, habe ich dort erst gelernt – und es hat meine missionskritische Perspektive und auch meine Schwierigkeiten mit meiner diesbezüglichen Familiengeschichte sehr verändert. Wenn wir nun 140 Jahre später mit dem Bibliolog eine im 19. Jh. begonnene Linie von Empowerment im Namen des Evangeliums weiterführen dürfen, ist das besonders und wirklich bewegend.