Wie sieht ein Bibliolog konkret aus?
Die Bibliologin oder der Bibliologe führt im „Prolog“ zunächst in diesen Zugang kurz ein. In der „Hinführung“ wird in die konkrete biblische Geschichte hineingeleitet, die wesentlichen Informationen über den Text werden erzählerisch vermittelt und die Identifikation mit der ersten Rolle wird angebahnt. An einer Stelle, wo „weißes Feuer“ loder, schlägt die Leitung die Bibel auf und liest einen Satz oder einen kurzen Abschnitt. Aus diesem weist sie der Gemeinde die Rolle einer biblischen Gestalt zu („enroling“) und spricht sie in dieser an.
In der Geschichte von der Aussendung der Zwölf (Mk 6,7-13) könnte zunächst Vers 7 gelesen werden: „Und er rief die Zwölf zu sich und fing an, sie auszusenden je zwei und zwei und gab ihnen Macht über die unreinen Geister.“ Den Teilnehmenden wird zunächst die Rolle der Jünger zugewiesen: „Sie sind einer der Jünger. Jünger, du wirst von Jesus ausgesendet und bekommst Macht über die unreinen Geister zugesprochen. Wie ist das für dich?“
Wer möchte, äußert sich dazu (nacheinander) in der Rolle eines Jüngers, und zwar in der Ich-Form.
Auf der Folie der persönlichen Lebensgeschichte mag daher der eine spontan äußern: „Das ist mir noch zu groß – was traut mir Jesus da zu“? Eine andere sagt hingegen vielleicht: „Ich bin bereit.“ Ein dritter könnte äußern: „Gut, dass wir zu zweit gehen“, die vierte zweifelt hingegen vielleicht: „Ob die Geister mir wirklich gehorchen?“
Die Äußerungen werden von der Leitung als „echoing“ sprachlich aufgenommen und verstärkt. Im „interviewing“ kann auch nachgefragt werden, wenn beispielsweise Inhalte nur angedeutet werden.
Nach einigen Äußerungen lenkt die Leitung zum Text zurück. Sie liest den nächsten Satz oder Abschnitt und hält erneut da inne, wo Fragen an den Text offen bleiben. Die Gemeinde bekommt erneut eine Rolle zugewiesen, die entweder eine andere Person oder auch die gleiche Person in einer späteren Situation sein kann. Erneut äußern sich Einzelne.
So könnten weiter die Verse 8-11 gelesen werden, in denen die Jünger aufgefordert werden, nur Stab und Schuhe, nicht aber Geld, Tasche und ein zweites Hemd mitzunehmen, in einem Haus zu bleiben, wo sie aufgenommen werden und im anderen Fall den Staub von den Füßen zum Zeugnis gegen dieses Haus zu schütteln. Dann werden vielleicht noch einmal die Jünger gefragt: „Jünger, nun wird es konkret. Was geht dir durch den Sinn bei diesen Anweisungen?“
Anschließend könnten die Teilnehmenden in der Rolle des Jesus gefragt werden: „Jesus, du siehst deine Jünger ziehen, je zwei und zwei zusammen, und blickst ihnen nach. Wie ist das für dich?“
Abschließend könnten noch einmal die Jünger nach ihrer Rückkehr gefragt werden: „Welches war die wichtigste Erfahrung für dich?“
Nach einigen Szenen wird der Bibliolog abgeschlossen. Die Leitung entlässt die Gemeinde aus den Rollen und führt im „Epilog“ in die Gegenwart zurück. Die unterschiedlichen Aussagen und damit auch die unterschiedlichen Zugänge zum biblischen Text bleiben nebeneinander stehen und werden nicht in eine einheitliche Botschaft aufgelöst.
Bibliolog lässt sich in ganz unterschiedlichen Handlungsfeldern in Kirche, Schule und darüber hinaus einsetzen: Als „Predigt mit der ganzen Gemeinde“ im Gottesdienst, als Heranführung an biblische Geschichten in der Jugendarbeit oder der Arbeit Konfirmand*innenarbeit, in Gemeindegruppen, Hauskreisen oder auf Seminaren und Tagungen, als Einheit in der Kita oder im schulischen Religionsunterricht, aber auch mit Menschen ohne religiöse Sozialisation. Ein Bibliolog dauert in der Regel 15-30 Minuten. Er benötigt in der Regel mindestens acht Teilnehmende, nach oben gibt es keine Beschränkungen in der Gruppengröße.
Die Predigt als Bibliolog zu gestalten, bietet die Möglichkeit, mit der ganzen Gemeinde zu predigen, ohne das vertraute Setting zu verlassen: Alle bleiben auf ihren Plätzen und niemand wird genötigt, sich aktiv zu beteiligen, aber allen wird ein Weg angeboten, dem biblischen Text persönlich zu begegnen. Die Predigttexte werden dabei häufig ganz anders und viel unmittelbarer auf das eigene Leben bezogen erlebt.
Bibliolog ist verwandt mit dem Bibliodrama. Beide gehen davon aus, dass sich durch ein „Hineingehen“ in die biblischen Geschichten ein neuer Zugang zur Bibel eröffnet und dass die biblischen Geschichten Raum zur spielerischen Identifikation anbieten. Der Anteil an Selbsterfahrung ist im Bibliolog allerdings geringer als im Bibliodrama und er erfordert eine geringere Bereitschaft, sich auf innere Prozesse in einer Gruppe einzulassen. Bibliolog erfordert kürzere Zeitspannen als das Bibliodrama und ist niedrigschwelliger, da die Teilnehmenden auf ihren Plätzen bleiben und vorrangig sprachlich agieren; daher lässt er sich flexibler in unterschiedlichen Handlungsfeldern einsetzen.
Bibliolog geht davon aus, dass die biblischen Texte zwar aus anderen Zeiten und Kulturen stammen, aber für Menschen heute wichtig und bedeutsam sein können. Er geht – wie auch die neuere wissenschaftliche Bibelauslegung – davon aus, dass die Texte mehrdeutig sind und von Menschen in unterschiedlichen Lebenssituationen und mit unterschiedlichen Erfahrungen verschieden gehört und verstanden werden. Dadurch, dass verschiedene Stimmen laut werden, können andere Zugänge deutlich werden und die eigene Wahrnehmung kann sich erweitern oder verändern. Die Vielfalt an Aussagen und die unterschiedlichen Perspektiven relativieren die eigenen Deutungen, da die Deutungen anderer das gleiche recht beanspruchen wie die eigene.
Wesentlich für den Bibliolog sind das „echoing“ und das „interviewing“. Das echoing nimmt die Äußerungen der Teilnehmenden sprachlich auf und verstärkt sie. Auf diese Weise werden die eher leisen Aussagen für alle hörbar, und nur angedeutete emotionale Gehalte werden hervorgehoben. Damit wird einerseits jede Äußerung als wertvolle subjektive Aussage gewürdigt. Andererseits bekommen diejenigen, die sich äußern, die Chance, sich selbst noch ein wenig besser zu verstehen und noch tiefer in die Rolle hineinzukommen. Das echoing verlangt von der Leitung neben der Fähigkeit zur Empathie und einem guten Kontakt zu den Einzelnen ein hohes Maß an Übung, denn Missverstehen und Fehlinterpretationen entmutigen und verkehren die Chance des Bibliologs in ihr Gegenteil. Wichtig ist zudem (anders als bei dem in der Schule zu Recht verpönten „Lehrerecho“), dass von der Leitung die Rolle nicht ‚besser‘ ausgefüllt wird, sondern die Äußerung der jeweiligen Person das Entscheidende bleibt.
Im „interviewing“ kann auch nachgefragt werden, wenn beispielsweise Inhalte nur angedeutet werden. Die Leitung muss dabei jedoch in der Linie der Teilnehmerin bleiben, es ist nicht ihre Aufgabe, einen Aspekt hervorzulocken, der sie selbst interessiert.
Unverzichtbar sind weiter das „enroling“ und das „deroling“ sowie der Prolog und der Epilog. Wesentlich ist zudem der Aufbau, die „Choreographie“ eines Bibliologs, konkret: an welchen Stellen welche Fragen an welche Personen gestellt werden.
Auch wenn ein Bibliolog beim Erleben „einfach“ wirken kann und an manches anschließt, was einem aus anderen Zugängen vertraut ist, muss man Bibliolog erlernen und kann ihn nicht einfach ausprobieren. Bibliolog ist im Detail sehr komplex und sein Gelingen hängt von diversen Aspekten ab, die auf den ersten Blick nicht unbedingt erkennbar sind. Dafür gibt es standardisierte Fortbildungen, in denen die Grundlagen gelegt werden, mit dem Bibliolog zu arbeiten. Sie umfassen eine Woche (Mo bis Fr) oder zwei Wochenenden. Solche Fortbildungskurse gibt es in (fast) allen Teilen Deutschlands für unterschiedliche Zielgruppen, in vielen europäischen Nachbarländern sowie in einigen afrikanischen Ländern. Alle Trainerinnen und Trainer, die die Fortbildungen leiten, sind im Bibliolog Netzwerk zusammengeschlossen und von diesem zertifiziert.
Beispiele
Bibliolog im Sonntagsgottesdienst
Bibeltext: Mk 12,41-44
(„Das Scherflein/Opfer der Witwe“)
„(…) Die Geschichte, um die es gehen soll, steht im Markusevangelium im 12. Kapitel. Jesus ist zusammen mit seinen Jüngerinnen und Jüngern in Jerusalem. Sie haben ihn aus ihren Dörfern in Galiläa in die Hauptstadt begleitet und bekommen nun täglich mit, wie Jesus lehrt und wirkt, wie er befragt wird und antwortet, wie er Kranke heilt, diskutiert und sich streitet. (…)“
Bibliolog im Religionsunterricht
Bibeltext: Exodus 1,15-21
(Die Hebammen Schifra und Pua)
„Die vierte Klasse einer Hamburger Grundschule beschäftigt sich mit der Mose-Überlieferung. (…) In der dritten Stunde der Einheit möchte ich die Schülerinnen und Schüler nun mit der biblischen Erzählung von dem Befehl des Pharaos an die Hebammen Schifra und Pua, die männlichen Neugeborenen zu töten, bekannt machen (…)“