Bibliolog im Sonntagsgottesdienst

Bibeltext: Mk 12,41-44
(„Das Scherflein/Opfer der Witwe")

Liebe Gemeinde,

predigen bedeutet ja üblicherweise, dass die Predigerin sich in ihrer Predigtvorbereitung ausführlich mit einem biblischen Text befasst und das Ergebnis ihrer Beschäftigung dann der Gemeinde mitteilt. Diese hört zu und macht sich ihre Gedanken zu dem, was die Predigerin sagt. Ich möchte heute die Predigt einmal anders zu gestalten: Statt Ihnen von meiner Beschäftigung mit dem Text zu erzählen, möchte ich Sie mit hineinnehmen in den Text und ihn mit Ihnen zusammen von innen heraus erkunden – wenn Sie so wollen, mit Ihnen „predigen“. Dies möchte ich mit einem „Bibliolog“ – einem Dialog mit der Bibel.

Wie das konkret geht, ist im Grunde sehr einfach. Ich werde in die Geschichte einführen und an bestimmten Stellen Sie bitten, sich in eine Gestalt aus der Geschichte hineinzuversetzen. In dieser Rolle werde ich Sie ansprechen, und Sie haben die Möglichkeit, als diese Person etwas zu sagen. Das darf durchaus leise und knapp sein, ich komme zu Ihnen und sage es noch einmal in meinen Worten laut für alle. Wichtig dabei ist: Alle dürfen, aber niemand muss etwas sagen – den Bibliolog stumm für sich zu vollziehen, ist genauso wertvoll. Aber eine gemeinsame Auslegung gibt es nur, wenn einige auch laut mitmachen, ich bin also auf Ihre Hilfe durchaus angewiesen. Und: Alle Äußerungen sind gleichermaßen wertvoll und wichtig – egal ob sich jemand theologisch gebildet fühlt, sich in der Bibel auskennt oder nicht – jede Antwort hilft uns, den Text noch ein wenig besser zu verstehen.

Die Geschichte, um die es gehen soll, steht im Markusevangelium im 12. Kapitel. Jesus ist zusammen mit seinen Jüngerinnen und Jüngern in Jerusalem. Sie haben ihn aus ihren Dörfern in Galiläa in die Hauptstadt begleitet und bekommen nun täglich mit, wie Jesus lehrt und wirkt, wie er befragt wird und antwortet, wie er Kranke heilt, diskutiert und sich streitet. Mit ihm besuchen sie aber auch immer wieder den Tempel, die heilige Stätte für alle Jüdinnen und Juden. Das ist ein Ort, an dem man sich mit seinen verschiedenen Höfen und Stätten lange aufhalten kann: man kann dort beten, opfern und auch für unterschiedliche Zwecke spenden. Auch heute sind sie wieder dort, gemeinsam mit Jesus. Auch heute sind viele Menschen dort, es ist ein Gedränge und Geschiebe, viele Menschen kaufen Opfertiere, bringen ihre Anliegen vor Gott, suchen seine Nähe. Die Jüngerinnen und Jünger halten sich in der Nähe von Jesus auf – als er plötzlich stehenbleibt und sich seine Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Opferkasten richtet. Es ist der Opferkasten, der für Spenden bestimmt ist, mit denen Gott Opfer dargebracht werden. Auch die Jüngerinnen und Jünger halten hier an oder, wenn sie schon weitergegangen sind, kommen zurück. Was interessiert ihn hier?

 In der Bibel heißt es (ich schlage die Bibel auf),

Jesus setzte sich dem Gotteskasten gegenüber und sah zu, wie das Volk Geld einlegte in den Gotteskasten. (Markus 12,41a)

 Sie – Sie alle – sind nun ein Jünger oder eine Jüngerin. Jünger, Jüngerin, Jesus ist bei diesem Opferkasten stehengeblieben, hat sich dort jetzt sogar hingesetzt und guckt jetzt zu, wie Leute Geld einlegen. Was denkst du dabei? Wie findest du das?

 – Komisch. Warum guckt Jesus zu? Das gehört sich doch nicht!

Ich finde dieses Zugucken merkwürdig und es verstößt gegen den Anstand – das tut man einfach nicht!

– Peinlich! Und das von Jesus.

Mir ist das richtig peinlich, besonders weil es ja nun nicht irgendwer ist, der da guckt, sondern unser Meister.

– Aber warum soll der nicht auch mal neugierig sein. Dem Volk aufs Maul – und auf die Hände geschaut – so ist er!

Es passt zu Jesus, die Menschen wahrzunehmen in dem, was sie sagen und auch in dem, was sie tun!

– Bestimmt hat er einen Grund dafür.

Jesus weiß, was er tut, davon bin ich fest überzeugt. Hast du schon eine Idee, was diesmal der Grund sein könnte, Jüngerin?

– Ich könnte mir vorstellen, dass er uns wieder etwas zeigen will.

Ich kenne das schon von Jesus, oft tut er, was er tut, um uns etwas deutlich zu machen – und das möchte ich gerne lernen.

Und in der Bibel heißt es weiter:

Und viele Reiche legten viel ein. (Markus 12,41b)

Sie sind eine Reiche, ein Reicher. Du legst viel ein, hören wir. Vielleicht tust du das regelmäßig, vielleicht nur sehr selten, vielleicht auch heute das erste Mal. Und du siehst, du wirst dabei beobachtet. Mit welchen Gedanken und Gefühlen tust du das, Reicher, Reiche?

– Guck doch nicht so!

Mir ist es unangenehm, beobachtet zu werden. Unangenehm, weil…?

– Ich tue das doch nicht, damit man es sieht!

Wenn ich großzügig gebe, will ich mich damit nicht brüsten, sondern es einfach tun.

– Ich finde das gut – sollen die ruhig sehen, dass wir Reichen keine schlechten Menschen sind.

Ich leide als Reicher darunter, dass ich moralisch verurteilt werde, und mir tut es gut, wenn andere mitbekommen, dass ich freigiebig gebe.

– Wer ist das denn, der da so guckt?

Ich bin neugierig, was das für einer ist, der sich für mich und mein Tun interessiert.

Dann wird erzählt:

Und es kam eine arme Witwe und legte zwei Scherflein ein; das macht zusammen einen Pfennig. (Markus 12,42)

Sie sind die Witwe. Witwe, du stehst vor dem Opferkasten. Du hast vor, alles einzulegen, was du im Moment besitzt. Davon könntest du einen ganzen Tag leben. Witwe, was bewegt dich dazu? Wie ist das für dich?

 – Ich möchte auch mal etwas geben!

Ich habe es satt, immer nur zu nehmen und zu bekommen, dadurch fühle ich mich erst richtig arm. Es tut mir gut, einmal die Gebende zu sein.

– Dass alle immer so an ihrem Geld festhalten, verstehe ich gar nicht. Ich geb\‘ das jetzt einfach, und der Rest wird sich finden!

Festhalten ist mir fremd, meine Art ist es, leichten Herzens zu geben und Vertrauen darauf zu haben, was kommt.

– Gott hat mir so viel geschenkt, und heute möchte ich ihm einmal etwas davon zurückschenken.

Was ich habe und bin, habe ich von Gott, und ich habe das Bedürfnis, ihm heute einmal etwas davon wiederzugeben.

– Es heißt ja: Wer gibt, bekommt zweifach zurück. Mal sehen, ob\’s klappt …

Ich denke taktisch: Vielleicht kann ich mein Geld vermehren, indem ich es in diesen Opferkasten gebe. Reizt es dich, Gott auf die Probe zu stellen, Witwe?

– Ja, schon ein bisschen. Mal sehen, was da dran ist an dem Gerede von Gott.

Das ist eine Gelegenheit, einmal zu prüfen, ob das wahr ist, was man von Gott erzählt.

– Gott sorgt für mich, und er wird auch heute für mich sorgen.

Ich habe festes Vertrauen in Gott, er wird auch heute dafür sorgen, dass ich das bekomme, was ich brauche.

Weiter lesen wir in der Bibel:

Und er rief seine Jünger zu sich und sprach zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch: Diese arme Witwe hat mehr in den Gotteskasten gelegt als alle, die etwas eingelegt haben. Denn sie haben alle etwas von ihrem Überfluss eingelegt; diese aber hat von ihrer Armut ihre ganze Habe eingelegt, alles, was sie zum Leben hatte. (Markus 12,43f.).

 Sie sind jetzt Jesus. Jesus, was ist es, dass dich diese Sätze sagen lässt? Wie siehst du die Witwe, wie die Reichen – und was heißt das für deine Jüngerinnen und Jünger?

 – Mich hat diese Witwe tief beeindruckt. Mit welcher Selbstverständlichkeit sie gibt, was sie hat – so sollen Menschen geben!

Ich bin beeindruckt von dieser Witwe und von der Selbstverständlichkeit, mit der sie gibt. Wenn das nur alle täten!

– Die Reichen tun immer so fromm, und dabei tut ihnen das überhaupt nicht weh, das bisschen, was sie geben.

Ich habe mich über die Reichen geärgert, wahre Frömmigkeit ist das nicht bei ihnen – und das ist bei der Witwe anders. Und bei der Witwe ist es …?

– Echt. Da passt etwas zusammen, wie sie ist und wie sie gibt.

Bei der Witwe passt das Geben zur Person, das ist echtes Geben – und ein authentischer Mensch.

– Meine Jünger sollen sich davon mal eine Scheibe abschneiden.

Ich möchte, dass meine Jünger von dieser Witwe lernen.

 Jesus, was genau möchtest du deinen Jüngern beibringen?

– Das Vertrauen der Witwe auf Gott.

Meine Jünger sollen dieses tiefe Vertrauen auf Gott lernen.

– Ich wollte, dass sich die Witwe nicht klein fühlen muss neben all den Reichen.

Mir ging es darum, die Witwe zu schützen von Minderwertigkeitsgefühlen den vielen reichen Menschen gegenüber.

Vielen Dank, Jesus, vielen Dank auch allen Witwen, Reichen, Jüngerinnen und Jüngern, die bei uns waren und uns von ihren Gedanken, Gefühlen und Motiven erzählt haben. Alle biblischen Figuren bitte ich nun, in dieses Buch zurückzukehren (ich mache eine einsammelnde Geste mit der Bibel). Sie bitte ich nun, wieder Sie selbst zu sein im Gottesdienst der Gemeinde x. Als Sie selbst hören Sie jetzt noch einmal die ganze Geschichte. Vielleicht gibt es jetzt einen Satz oder einen Aspekt, der Ihnen wichtig geworden ist und den Sie nach dem Gottesdienst mitnehmen möchten in ihren Alltag.  (Ich lese Markus 12,41-44.)

Ich danke Ihnen dafür, dass Sie sich auf den Dialog mit der Bibel eingelassen haben und mit mir zusammen den Text entdeckt und ausgelegt haben. Sie haben gemerkt, wie viel in diesen wenigen Zeilen drinsteckt an Erfahrungen, Gefühlen, Motiven gegenüber Gott und den Menschen. Und Sie haben vielleicht gemerkt, wie unterschiedlich man sich diesem Text nähern kann und wie lebendig er wird, wenn man ihn mit eigenen Erfahrungen verbindet. Ich könnte mir vorstellen, dass Sie, wenn Sie das nächste Mal diesem Text begegnen, ihn anders lesen oder hören als bisher.