„Ursprungsstory“ des Bibliologs
von Uta Pohl-Patalong
Bibliolog hat einen regelrechten „Ursprungsmythos“: Peter Pitzele wurde 1984, während seiner Zeit als Psychodramatiker an einer New Yorker Klinik, von seinem Chef, der gleichzeitig sein Freund und Mentor war, gebeten, ihn bei einem Lehrauftrag am Jewish Theological Seminary (der Ausbildungsstätte des konservativen Judentums für Rabbinerinnen und Rabbiner sowie Religionslehrerinnen und Religionslehrer) zu vertreten. Diese Bitte konnte er schlecht abschlagen. Da er aber als säkularer Jude ohne wirkliche Kenntnis der jüdischen Tradition aufgewachsen war, fühlte er sich diesem Auftrag zunächst wenig gewachsen.
Zwei Fähigkeiten brachte er für diesen Kurs zum Thema „Leitung“ mit: seine literaturwissenschaftliche Bildung (Peter Pitzele war vor seiner psychodramatischen Tätigkeit in Literaturwissenschaft promoviert worden) und seine psychodramatische Kompetenz. Diese zusammenführend wählte er Mose als biblische Gestalt, in dessen Geschichte Leitung eine wichtige Rolle spielt, und ließ die Studierenden Szenen aus dem Leben des Mose nennen, die Aspekte von Leitung thematisieren. Er bat sie, sich in die Gestalt des Mose hineinzuversetzen, befragte sie in dieser Rolle und ließ sie antworten. Auf diese Weise verging die Stunde („the longest hour of my life“, wie er sagt), und zu seiner Überraschung waren die Studierenden begeistert von diesem Weg, etwas über Leitung, die biblische Tradition und ihre eigenen Themen und Konflikte zu lernen.
Ein Student sagte nach dieser Stunde: Das ist ja Midrasch! Peter Pitzele hörte das Wort zum ersten Mal und erfuhr von der langen jüdischen Tradition, Texte durch kreative Füllung ihrer Lücken auszulegen. Er wurde ein weiteres Mal gebeten, am Jewish Theological Seminary zu unterrichten, fand sich in seinem aus der Not entwickelten Zugang erneut bestätigt und begann, sich für die jüdische Auslegung und insgesamt für die jüdische Tradition zu interessieren. Aus dieser intensiven persönlichen Beschäftigung (geschildert sehr anschaulich in seinem zweiten Buch „Our Fathers Wells“) und vor dem Hintergrund seiner sonstigen Interessen und Fähigkeiten entwickelte er zusammen mit Susan Pitzele allmählich einen wiederholbaren Ansatz. Er wurde dann gebeten, im jüdischen Gottesdienst diese Form der Auslegung zu praktizieren. Auch in christlichen Kirchen (Susan Pitzele ist anglikanische Christin) fand dieser Weg des Umgangs mit biblischen Texten Aufmerksamkeit, und die Pitzeles wurden in christliche Gottesdienste eingeladen. Seitdem praktizieren sie in unterschiedlichen Kontexten ihren Neuansatz. Peter Pitzele nannte seinen Zugang „Bibliodrama“ und nennt ihn in den USA auch immer noch so (in „Scripture Windows“ ist daher auch durchgehend von „Bibliodrama“ die Rede, was in den aus diesem Buch hier zitierten Passagen erkennbar ist).
Als er 1998 das erste Mal nach Deutschland kam – eingeladen war er zunächst im Rahmen der internationalen Bibliodrama-Konferenz in der Evangelischen Akademie Nordelbien in Bad Segeberg – entdeckte er zu seiner Überraschung, dass es in Deutschland eine breite Bibliodrama-Bewegung gibt und viele Menschen verwandte Zugänge zur Bibel praktizieren. Gleichzeitig wurde deutlich, dass diese Form von „Bibliodrama“ charakteristische Unterschiede zu den europäischen Spielarten aufweist und darin auch noch einmal andere Chancen hat. Mein Kollege Frank Muchlinsky und ich baten Peter Pitzele daher, seine Form von „Bibliodrama“ in einem mehrtägigen Workshop zu vermitteln, was er 1999 im Evangelischen Zentrum Rissen in Hamburg erstmalig tat. Bei dem im Jahr darauf folgenden Workshop in Bad Segeberg wurde deutlich, dass der zunächst gefundene Titel „Bibliodrama als Midrasch“ nur eine Übergangslösung sein kann und ein eigenes Wort für diesen eigenständigen Zugang nötig war. Peter Pitzele fand daher das Wort „Bibliolog“, das die Assoziationen Bibel, Dialog sowie Logos (griechisch „das Wort“) aufnimmt und Verwandtschaft und Unterschiedenheit zum Bibliodrama signalisiert.
Ein weiterer Besuch der Pitzeles in Deutschland 2003 und ein von ihnen geleiteter Bibliolog-Workshop wiederum an der Evangelischen Akademie Nordelbien in Bad Segeberg gaben die Initialzündung für die Entwicklung von Bibliolog-Kursen in deutscher Sprache, von denen im Januar 2004 der erste im Studienzentrum für evangelische Jugendarbeit Josefstal durchgeführt wurde. Die Kurse wurden von anderen Institutionen nachgefragt und an verschiedenen Orten angeboten. Sie bekamen dabei eine stärker strukturierte und an die europäischen Gegebenheiten und Bedürfnisse angepasste Form mit dem Ziel, Bibliolog ohne Qualitätsverlust person- und ortsunabhängig vielen Menschen zu vermitteln. Relativ rasch wurde deutlich, dass Bibliolog-Kurse einige „Cornerstones“ („Ecksteine“) brauchen, um die Identität und Qualität von Bibliolog in seiner raschen Verbreitung zu sichern. Gleichzeitig entstand der Bedarf nach einem Zusammenschluss derjenigen, die Bibliolog leiten, um miteinander in Kontakt zu bleiben und Bibliolog weiterzugeben und weiterzuentwickeln.
2006 wurde im Studienzentrum für evangelische Jugendarbeit Josefstal zusammen mit Peter und Susan Pitzele das Bibliolog-Netzwerk gegründet. Gleichzeitig wurden „Cornerstones“ für die Bibliolog-Grundkurse festgelegt und mit beiden gemeinsam der Weg der Weitergabe von Bibliolog festgelegt. Er führte zu einem Qualifikationsmodus von Trainerinnen und Trainern, der in den folgenden Jahren modifiziert und in seinen Standards erhöht wurde, weil sich zeigte, dass die Leitung von Bibliolog-Kursen ein anspruchsvolles und komplexes Unterfangen ist, das längerer Qualifikation bedarf. Parallel dazu wurden Aufbaukursmodule entwickelt, die die Grundform in unterschiedliche Richtungen erweitern und vertiefen.
Das Bibliolog-Netzwerk ist ebenso rasch gewachsen wie die Anzahl der Grund- und Aufbaukurse. Bibliolog hat sich zunächst in der Schweiz und in Österreich etabliert und ist dann über den deutschsprachigen Raum hinaus in viele europäische Länder, mehrere afrikanische Länder und nach Südamerika (bisher v.a. in Brasilien, ansatzweise auch in Chile) gewachsen. Bisher haben schätzungsweise 12.000 Menschen einen Grundkurs absolviert. Es gibt gegenwärtig ca. 70 Trainer*innen aus fast allen Ländern und Kontinenten, in denen es Kurse gibt.
Siehe: Peter A. Pitzele: Our Fathers’ Wells. A Personal Encounter with the Myths of Genesis, San Francisco 1994.